Behausung
Wilhelm Schalls neue Malereien und Drucke, die unter dem Titel »Behausung« stehen, scheinen dem Auge unmittelbar fassbar. Denn »Behausungen« zeigen sie: nichts mehr und nichts weniger und nichts drumherum – auf den ersten Blick eben, und möglicherweise auch, wenn man über den ersten Blick nachdenkt. Dem ersten Blick verborgen mag aber der Weg sein, der zu diesen so einfach erscheinenden Bildern hinführt, und darum bereichert es das Anschauen, wenn man überlegt, woraus sie sich entwickelt haben. Gar so einfach sind sie dann nicht mehr. In ihrer Einfachheit haben sie eine verwirrende Dialektik aufgehoben.
Kennt man etwas ältere Serien Schalls – die »Zauberbäume«, »Gedankenfrüchte« oder »Synapsen« –, so weiß man, wie ausführlich und raffiniert die farbige Oberfläche der Bilder hervorgebracht wurde. Weiße, grüne, gelbe, rosafarbige und andere Töne überlagern sich dort in zahllosen Schichten, die sich teils gänzlich verdecken, teils durchscheinen lassen. Organische Volumina entwickeln sich aus häufig dunklerern Farbtönen, verknüpfen sich untereinander und schweben so verknüpft durch einen schillernden Farbraum. Für viele jener älteren Werke ist es charakteristisch, dass sie vielschichtig, räumlich und bewegt sind und dass sie darin auf ihre Weise seelisches und denkendes Leben veranschaulichen: Gedanken und Gefühle und ihren noch ungeformten, aber von zahllosen Kräften durchwirkten Untergrund.
Obwohl nun die Farb- und Malsprache der »Behausungen« die unverkennbare persönliche Note Schalls beibehält und weit entfernt ist, radikal mit irgendetwas zu brechen, entwickeln die »Behausungen« gerade aus jenem farbigen, vielgestaltigen Schimmern und Schweben ihre Dialektik. Sie zeigen einen Weg zum Grau, zum Stillstand, zur Vereinfachung. Und gerade was man darin für eine Verarmung halten könnte, ist der Reichtum der neuen Bildwerke.
Grau löst als Hintergrund – oder was man traditionellerweise für einen »Hintergrund« hält – in vielen Fällen das häufig erdfarbige, flüssige oder luftige Schimmern ab. Das heißt nicht einfach, dass Farben verblasst sind. Das Grau in seinen unzähligen Tönen ist das Ergebnis einer unverändert gründlichen, ausführlichen Malweise und wird selbst als Farbe erfahrbar. Seine unauffällige Einfachheit präsentiert sich differenziert, teils leuchtend, teils schattig, und auf seine eigene Art lebendig.
Was vorher luftig schwebte, erscheint nun zur Ruhe gekommen. Weniges nur kippt, fliegt und purzelt. Aufrecht stehen die Rechtecke der »Behausungen« und tragen ihre Dächer. Dieser scheinbare Stillstand ist ein Ergebnis des künstlerischen Be- und Nachdenkens, das immer tiefer nach innen gegangen ist und das immer Elementarere, Einfachere aufgespürt hat. Es scheint, als seien die geometrischen Grundformen – hier das Rechteck und das gleichseitige Dreieck – die Elemente, die sich hinter den ausgereiften »Gedankenfrüchten« und ihren komplizierteren organischen Formen und Verzweigungen verbergen; als seien sie das stillstehende, zeitlose Allgemeine, aus dem das denkende und fühlende Leben sich gestaltet. Sie sind Archetypen, die das kreative Denken jedes Einzelnen nähren.
Aber gerade hier wird die Dialektik des Wegs zu den »Behausungen« am ehesten bemerkbar. Der Weg zum Einfachen und Innersten bringt etwas zum Vorschein, das ebensosehr das Äußere ist, nämlich gerade die Behausung, die das Leben umkleidet und schützt und von ihm geradeso gestaltet ist, wie umgekehrt das Leben von demjenigen gestaltet wurde, das sich nun als »Behausungen« zeigt. Gehst du nach innen, kommst du in der Außenwelt wieder heraus – und schaust du die Außenwelt tief genug an, so findest du die Grundformen und Grundkräfte wieder, die dein Inneres ausmachen. So sind diese auf den ersten Blick so einfachen »Behausungen« viel mehr als das; sie sind Sinnbild dessen, was zugleich klein und groß, innen und außen, unmittelbar und vermittelt, einfach und Ergebnis bedächtiger, jahrzehntelanger Arbeit ist.
Dr. T. D.